Wenn Heilung sich wie Stillstand anfühlt

Manchmal, selbst nach tiefgehender und konsequenter innerer Arbeit, findest du dich immer wieder in denselben emotionalen Stürmen wieder. Du warst in Therapie und hast dein Trauma aufgearbeitet. Du erkennst deine inneren Muster und lernst mehr auf deinen Körper zu hören. Und doch stehst du gefühlt wieder an der gleichen Stelle und fühlst dich überwältigt, leer, oder erschöpft.

Vielleicht fühlt es sich an, als würdest du im Kreis gehen und als würde sich nichts ändern. In solchen Momenten ist es leicht, den Gedanken zu glauben, dass du nicht heilst, dass etwas mit dir nicht stimmt und dass du trotz allem, was du getan hast, innerlich „zerbrochen“ bist.

Doch das ist nicht die Wahrheit. Die Wahrheit ist, dass Heilung nicht linear verläuft. Oft fühlt es sich nicht einmal wie Fortschritt an, selbst wenn er da ist. Auf deinem Weg berührst du tiefere Schichten, Anteile, die einst verdrängt werden mussten, um überhaupt zu überleben. Du baust langsam die Fähigkeit auf, bei dem zu bleiben, was einst unerträglich war. Und das bedeutet oft mehr zu fühlen und nicht weniger. Manchmal heißt es auch, denselben Schmerz noch einmal zu erleben, aber ihm aus einer anderen Perspektive zu begegnen.

Das ist kein Versagen und du musst nicht von vorne beginnen. Es ist die stille, unsichtbare Fortsetzung deiner Heilungsreise, die oft unsichtbar für andere und manchmal sogar für uns selbst ist.

Der Druck der Gesellschaft: Vom Leistungsdenken zur Präsenz

Unsere Kultur misst Heilung und Erfolg oft an Leistung, Geschwindigkeit und sichtbaren Ergebnissen. Es wird erwartet, dass wir „funktionieren“, schnell in unsere Rollen zurückkehren, ob als Partnerin, Elternteil, Kollege, oder Freund, und wieder „gut“ funktionieren.

Doch Heilung geschieht selten so. Wenn das Nervensystem noch vom Trauma geprägt ist, brauchen Körper und Psyche Zeit, um Vertrauen zu lernen. Der Weg ist langsam, zyklisch, unvorhersehbar. Der Druck, uns zu „reparieren“ oder Fortschritte beweisen zu müssen, verstärkt nur Stress und entfremdet uns von unserer eigenen Erfahrung.

Denn in Wahrheit verlangt Heilung von uns präsent zu sein. Präsenz bedeutet, mit Mitgefühl und Neugier für das da zu sein, was jetzt in uns ist, selbst wenn es sich unangenehm oder verwirrend anfühlt. Es bedeutet, uns Raum für Ruhe, Tränen und das Gefühl von Unsicherheit zu geben. Es bedeutet, die Bedürfnisse und Rhythmen deines Körpers über gesellschaftliche Zeitpläne zu stellen.

Dieser Wandel weg vom Leistungsdenken und hin zu mehr Präsenz, fordert uns heraus. Er stellt unsere kulturellen Vorstellungen von Produktivität und Selbstwert infrage. Er lädt uns ein, ein mitfühlender Beobachter unserer eigenen Erfahrung zu werden, statt uns ständig selbst zu kritisieren oder Veränderung zu erzwingen.

Inneres Chaos navigieren: Wenn unterschiedliche Anteile aufeinandertreffen

Besonders wenn wir frühes Trauma in unserer Kindheit erlebt haben, leben viele innere Anteile gleichzeitig in uns: einer sehnt sich nach Sicherheit, ein anderer will alles kontrollieren, wieder ein anderer fühlt sich überfordert oder betäubt. Diese Teile stehen oft im Widerspruch zueinander und bilden leicht einen innerer Konflikt, was sich verwirrend und erschöpfend anfühlen kann.

Es ist wichtig zu verstehen, dass jeder Anteil aus einem Grund existiert. Heilung bedeutet nicht, diese Anteile wegzuschieben oder zu „reparieren“, sondern allen einen Platz zu geben, und zu versuchen ihnen mitfühlend zu begegnen und zuzuhören. Gleichzeitig wächst nach und nach der gesunde, fürsorgliche Anteil in uns, der Halt gibt und unsere inneren Kindanteile unterstützen kann. Dieser Prozess braucht Zeit. Er ist selten einfach oder übersichtlich, aber genau hier entsteht tiefe Transformation.

Wenn Heilung sich wie Untergehen anfühlt

Heilung wird oft als Spirale beschrieben, als ein Prozess der Vertiefung. Doch manchmal fühlt sich diese Spirale nicht wie Wachstum an, sondern wie ein Abwärtsstrudel.

Selbst Jahre nach Beginn der Aufarbeitung fragen viele sich: Warum werde ich immer noch davon getriggert? Warum ziehe ich denselben Beziehungstyp an? Warum fühle ich mich noch innerlich zerbrochen? Warum fühle ich mich noch sensibler oder verlorener als zuvor?

Dies ist einer der schmerzhaftesten und am meisten missverstandensten Punkte auf dem Heilungsweg. Es ist wichtig, hier Inne zu halten um zu verstehen: Heilung geschieht nicht in Isolation. Du navigierst nicht nur deine eigene innere Welt, sondern heilst innerhalb einer Gesellschaft, die nicht für Heilung geschaffen ist.

Unsere Welt belohnt Überleben, nicht Leben

Wir leben in einer Welt, die Leistung, Geschwindigkeit, Produktivität und das Unterdrücken von unserer echten Wahrnehmung belohnt. Seit der Industriellen Revolution wurde unsere Gesellschaft auf einem dominanten Wert aufgebaut: unser Arbeitsergebnis und unsere Produktionsmenge.

Wir werden gelobt, wenn wir durchhalten, funktionieren, und etwas erreichen. Wir werden nicht gelobt, wenn wir uns ausruhen, trauern, sanft oder langsam sind. Wir erhalten keine Unterstützung beim Fühlen und Wahrnehmen unserer Umwelt, und wir lernen nicht, wie man präsent und im Kontakt mit sich selbst ist.

Wenn dein Körper „Nein“ sagt und du langsamer und achtsamer leben willst, schwimmst du gegen den Strom einer ganzen Gesellschaft, und das ist kein leichter Weg.

Bewusstsein als zweischneidiges Schwert

Je mehr wir uns selbst, unsere Muster, unser Trauma und unsere unerfüllten Bedürfnisse wahrnehmen, desto schmerzhafter kann es sich anfühlen, in einer Gesellschaft zu leben, die diese Teile verleugnet. Du siehst klarer, fühlst intensiver, nimmst Stress und Unwahrheiten deutlicher wahr. Diese Sensibilität ist heilig, kann sich aber auch wie ein Fluch anfühlen.

Dieser Bewusstsein ist nicht nur emotional oder mental, sondern auch körperlich, und in Beziehungen, sowie kollektiven Systemen und Strukturen zu spüren. Wenn wir ungesunde Dynamiken in uns, in unseren Familien und in der Welt erkennen, will etwas in uns ausbrechen. Doch dieser Ausbruch bedeutet selten sofortige Befreiung.

Denn selbst wenn ein System ungesund ist, fühlt es sich für die Anteile in uns, die darin überlebt haben, oft wie Heimat an. Selbst Chaos kann vertraut und sicher erscheinen, wenn es alles ist, was wir kennen. Wenn du also beginnst, diese Muster zu erkennen, sei es durch das Verlassen eines ungesunden Jobs, das Setzen von Grenzen in einer Beziehung oder durch Ruhe statt Produktivität, veränderst du dein inneres Gefühl von Sicherheit. Und ja, das kann Angst machen.

Du warst nie dafür gedacht, das allein zu tun

Einer der größten Mythen der modernen Heilung ist, dass wir alles allein schaffen müssen und dass Selbstregulation das Ziel sei. Doch Heilung ist zutiefst menschlich.

Ja, wir brauchen innere Ressourcen. Aber wir brauchen auch Halt im Außen, das gemeinsame Regulieren, das Gesehen- und Gehaltenwerden. Heilung geschieht in Beziehung, in Kontakt und in Gemeinschaft.

Eine andere Art von Heilung

Heilung bedeutet nicht immer, sich besser zu fühlen. Oft bedeutet sie, ehrlicher und tiefer zu fühlen. Es geht nicht darum, irgendwann „fertig“ zu sein, sondern darum, dir mit Sanftheit zu begegnen, selbst dann, wenn Chaos da ist.

Deine inneren Konflikte sind kein Versagen. Sie sind Spuren alter Überlebensweisen, die noch Fürsorge brauchen. Dass du überhaupt hier bist, hinschaust, und fühlst, das ist der eigentliche Fortschritt.

Diese Arbeit ist nicht einfach. Es braucht Mut, sich selbst immer wieder zu begegnen, besonders wenn es sich anfühlt, als würde sich nichts ändern. Aber die Tatsache, dass du noch hier bist, alternative Wege suchst, fühlst und hinschaust, das zählt. Du musst nicht alles beisammenhaben. Du musst dich nicht ständig gut fühlen. Es reicht, ehrlich und sanft mit dir zu sein, dort, wo du gerade bist. 💛

Reflexionsfragen

  • Welche Erwartungen habe ich daran, wie Heilung „sein sollte“ oder sich anfühlen sollte?

  • Wo fühle ich Druck, „besser zu werden“, statt mit dem, was ist, präsent zu sein?

  • Wie gehe ich mit den Anteilen in mir um, die noch im Konflikt sind oder sich festgefahren fühlen?

  • Auf welche Weise bin ich gewachsen – nicht in Ergebnissen, sondern darin, wie ich mich selbst begegne?

Wenn dich dieser Beitrag angesprochen hat, freue ich mich sehr über deine Gedanken oder Kommentare. Du bist in diesem Raum herzlich willkommen.

Und wenn du spürst, dass du diese Themen tiefer erforschen möchtest, biete ich 1:1- und Gruppensitzungen online und vor Ort in Oslo an.

Danke, dass du hier bist. 💛

Julia

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