Nicht gewollt vor der Geburt? Wie frühes Trauma formt, wer wir werden
Das Eingeständnis, dass Eltern und besonders Mütter ihre Kinder ungewollt traumatisieren können, ist ein sensibles und oft tabuisiertes Thema. In vielen Kulturen werden Mütter idealisiert, als ob Fürsorge und Liebe selbstverständlich und bedingungslos seien. Umso schwieriger ist es, anzuerkennen, dass auch eine Mutter, meist unbewusst und aufgrund eigener Verletzungen, ihrem Kind Leid zufügen kann.
In der Identitätsorientierten Psychotraumatheorie (IoPT), entwickelt von Prof. Dr. Franz Ruppert, beginnt das sogenannte Identitätstrauma, das heißt die innere, subjective Erfahrung „Ich bin nicht gewollt, so wie ich bin“ häufig schon sehr früh, und oft bereits im Mutterleib. Es gibt verschiedene Ursachen, durch die dieses Trauma entstehen kann:
Das ungewollte Kind
War eine Schwangerschaft nicht geplant, kann es sein, dass die Mutter mit dem Gedanken an Abtreibung ringt oder diese sogar versucht, das Kind aber überlebt. Auch wenn sie sich aus äußeren Gründen (etwa gesellschaftlichem oder religiösem Druck) für das Kind entscheidet, kann innerlich dennoch eine Ablehnung bestehen bleiben. Das ungeborene Kind spürt dieses „Nein“ der Mutter und lernt, den Schmerz darüber zu verdrängen, um überhaupt weiterexistieren zu können. Oft wendet sich dieses Nein später nach innen und wird zum „Nein“ des Kindes zu seiner eigenen Existenz (Ruppert, 2019). Kinder, die so aufwachsen, entwickeln nicht oft eine starke Selbstablehnung, selbstschädigendes Verhalten oder ein geringes Selbstwertgefühl.
Die aus psychologischer Sicht unreife Mutter
Manche Frauen entscheiden sich für ein Kind nicht aus innerem Wunsch, sondern aus einer Überlebensstrategie heraus, etwa um eine innere Leere zu füllen, Liebe zu bekommen, die sie selbst nie erfahren haben, oder um sich über die Rolle als Mutter zu definieren. In solchen Fällen wird das Kind unbewusst zum „Versorger“ der Mutter. Es soll Bedürfnisse erfüllen, die eigentlich nicht in seiner Verantwortung liegen. Diese Verdrehung der Rollen lastet schwer auf dem Kind: Es unterdrückt eigene Gefühle und Wünsche, um den Halt der Mutter nicht zu gefährden. Die Mutter projiziert ihre unerfüllten Bedürfnisse auf das Kind und zehrt damit an seiner Energie und Lebenskraft (Broughton, 2021).
Unter diese Kategorie fällt auch die narzisstisch geprägte Mutter, die Bestätigung, Bewunderung und Gehorsam von ihrem Kind infordert und das Kind für ihr eigenes emotionales Wohl verantwortlich macht. Das Kind lernt, seine eigenen Bedürfnisse, Gefühle und Wünsche zu unterdrücken, um die Anerkennung der Mutter nicht zu verlieren. Die Folgen sind häufig Identitäts- und Bindungsstörungen, chronische Selbstzweifel und Schwierigkeiten, authentische Beziehungen aufzubauen. (Määttä & Uusiautti, 2018).
Die ambivalente Mutter
Hat die Mutter selbst unverarbeitetes Trauma, kann sie innerlich gespalten sein: Ein Teil will das Kind, ein anderer Teil lehnt es ab. Diese innere Zerrissenheit überträgt sich auf das ungeborene Kind und erzeugt eine Ambivalenz gegenüber der eigenen Existenz (Ruppert, 2016).
Das Ersatzkind
Wenn Eltern ein Kind durch Fehlgeburt, Totgeburt oder frühem Tod verloren haben, wird oft ein weiteres Kind gezeugt, um den Schmerz zu bewältigen. Doch das neue Kind kann das verstorbene Geschwisterkind niemals ersetzen und den Schmerz um das verstorbene Geschwister nicht heilen. Häufig entsteht so das Gefühl, nicht „man selbst“ zu sein, sondern etwas ersetzen zu müssen. Schuld, Scham, Verwirrung und Identitätskonflikte sind typische Folgen. (Broughton, 2021).
Das „falsche“ Geschlecht haben
Wenn Eltern sich zum Beispiel einen Jungen wünschen, die Mutter jedoch ein Mädchen erwartet, kann dies die Identitätsentwicklung des ungeborenen Kindes erheblich beeinträchtigen. Später im Leben zeigt sich dies oft als Gefühl, im eigenen Körper nicht richtig zu sein, oder in Identitätsverwirrung (Broughton, 2021).
Warum die Realität pränataler Traumata oft verdrängt wird
Obwohl Forschung und Dikussionen zu diesem Thema sehr wichtig sind, stoßen sie immer wieder auf großen Widerstand. Ein Grund dafür ist die tief verankerte Überzeugung, dass ungeborene Kinder noch keine Bewusstsein oder eine emotionale Wahrnehmung haben. Studien zeigen jedoch, dass das Stressniveau der Mutter während der Schwangerschaft die Stressreaktivität und physiologische Regulation des Kindes beeinflusst (Foss et al., 2023), und dass es die Gehirnentwicklung des Ungeborenen sowie seine spätere Fähigkeit zur Emotionsregulation negativ prägen kann (Wu et al., 2020).
Traditionelle psychologische Modelle haben lange Zeit vor allem nachgeburtliche Erfahrungen als Hauptursache für psychisches Trauma betrachtet und damit die Bedeutung von vorgeburtlichem Trauma weitgehend ignoriert.
Mutterschaft, Trauma und kulturelle Überzeugungen
Ein weiterer Grund, warum dieses Thema so heikel liegt darin, dass Rupperts Konzept des Identitätstrauma tief verwurzelten gesellschaftlichen Idealen von Mutterschaft widerspricht. Das Bild der Mutter als rein fürsorglich, selbstlos und liebevoll ist kulturell stark verankert. Die Anerkennung, dass auch Mütter oft ungewollt und durch ihr eigenes Trauma geprägt, ihre Kinder verletzen können, fordert fordert die Gesellschaft auf, unbequeme Wahrheiten über familiäre Dynamiken, transgenerationale Traumata und gesellschaftliche Normen im Erziehungswesen anzuerkennen.
Wichtig ist, dass es hier nicht um Schuldzuweisung geht oder darum, Mütter zu verurteilen. Jede Mutter ist selbst einmal ein Kind gewesen und trägt ihre eigenen, inneren Wunden. Trauma wird nicht „erfunden“, sondern über Generationen weitergetragen und daher sind Mütter ebenso Betroffene wie ihre Kinder.
Frühe Bindung und ihre Bedeutung
Biologisch gesehen sind die ersten Lebensjahre entscheidend für Bindung, Sicherheit und emotionale Stabilität. Eine feinfühlige, präsente Bezugsperson (meist die Mutter) ist grundlegend für die Fähigkeit, gesundes Vertrauen, Selbstwert und Emotionsregulation aufzubauen.
Doch unsere moderne Gesellschaft erschwert diese Bindung häufig. Finanzieller Druck, kurze Elternzeiten und frühe Fremdbetreuung belasten die Mutter-Kind-Beziehung. Krippen und Kitas sind für viele Familien unverzichtbar, doch sie können den natürlichen Bindungsprozess stören. Studien zeigen, dass solche Störungen spätere Schwierigkeiten in Selbstwert, Beziehungsgestaltung und Emotionsregulation begünstigen (Bowlby, 1988).
Gleichzeitig wird in unserer Gesellschaft beruflicher Erfolg oft höher angesehen, als Fürsorge und echte Familienzeit. Mütter, die zu Hause bleiben, werden oft als ambitionslos abgestempelt, während jene, die früh arbeiten gehen, als leistungsstark gesehen werden. Dieses Paradox spiegelt eine Gesellschaft wider, die tief selbst traumatisiert ist.
Warum es so weh tut, darüber zu sprechen
Viele reagieren abwehrend, weil sie selbst frühe Traumata erfahren haben – bewusst oder unbewusst. Abwehr schützt vor der schmerzhaften Erkenntnis, dass auch die eigene Kindheit Ablehnung geprägt war und vot schmerzhaften Erkenntnissen über die eigene Elternrolle.
Hinzu kommt, dass wir uns nicht bewusst an die Zeit im Mutterleib erinnern. Wir sind auf Erzählungen von unseren Eltern oder Verwandten angewiesen, die jedoch unvollständig, verzerrt oder falsch sein können. Entscheidend bleibt die subjektive Erfahrung des Kindes und diese kann von der elterlichen Wahrnehmung stark abweichen. Was für Eltern wie Fürsorge wirken mag, kann vom Kind dennoch als tief traumatisierend erlebt werden. Viele Eltern sind überzeugt, ihr Bestes gegeben zu haben, und doch trägt das Kind innere Wunden durch Ablehnung oder emotionalem Mangel in sich, ob beabsichtigt oder nicht.
Mit IoPT frühes Trauma verstehen und heilen
Die IoPT-Therapie bietet über Aufstellungsarbeit und Resonanz eine tiefgehende Möglichkeit, unbewusste Anteile sichtbar zu machen und zu verstehen, wie frühes Trauma unser Selbstbild, unsere Gesundheit und Beziehungsmuster geprägt hat.
Kinder, die Ablehnung erleben, müssen ihren Schmerz tief verdrängen. Dieses Unterdrücken von Gefühlen zeigt sich später im Leben häufig als Form von Depression, Dissoziation, Selbstsabotage, Selbstverletzung oder Beziehungsschwierigkeiten.
Mit der Hilfe der Anliegenmethode und einem IoPT-Prozess (Selbstbegegnung) können wir uns mit unseren abgespaltenen, inneren Anteilen verbinden, unterdrückte Trauer, Wut, Verzweiflung und andere Gefühle bearbeiten und so unser Selbst Schritt für Schritt stärken und heilen. Diese Resultate werden auch von einer Studie zur IoPT belegt (Stjernswärd, 2021).
Gedanken zum Abschluss
Pränatales Trauma zu verstehen, fordert uns auf, die Bedeutung der allerfrühesten Lebensphase wirklich zu erkennen. Heilung dieser tiefen Wunden braucht Zeit, Achtsamkeit und einen sicheren Raum. Es geht nicht um schnelle Lösungen oder darum, „fertig“ zu werden. Es geht darum, uns selbst mit Liebe, Annahme und Verständnis zu begegnen, Schritt für Schritt.
👉 Wie berührt dich dieses Thema? Hast du eigene Erfahrungen mit dem Gefühl, unerwünscht gewesen zu sein? Teile deine Gedanken gerne in den Kommentaren.
Danke, dass du hier bist.
– Julia
Reflexionsfragen
Hast du dich in deiner Kindheit (oft) unerwünscht oder nicht akzeptiert gefühlt? Wie hat das dein Selbstbild geprägt?
Welche gesellschaftlichen Erwartungen an Elternschaft haben deine Sicht auf Bindung und frühe Kindheit beeinflusst?
Literaturverzeichnis
Bowlby, J. (1988). A secure base: Parent-child attachment and healthy human development. Basic Books.
Broughton, V. (2021). Trauma and identity. Green Pharmacy Balloon Publishing.
Foss, S., Petty, C. R., Howell, C., Mendonca, J., Bosse, A., Waber, D. P., Wright, R. J., & Bosquet Enlow, M. (2023). Associations among maternal lifetime trauma, psychological symptoms in pregnancy, and infant stress reactivity and regulation. Development and Psychopathology, 35(4), 1714–1731.
Määttä, M., & Uusiautti, S. (2018). ‘My life felt like a cage without an exit’ – Narratives of childhood under the abuse of a narcissistic mother. Child Abuse & Neglect, 87, 1065–1079.
Ruppert, F. (2016). Early trauma: Pregnancy, birth and first years of life. Green Pharmacy Balloon Publishing.
Ruppert, F. (2019). Who am I in a traumatised and traumatising society? Green Pharmacy Balloon Publishing.
Stjernswärd, S. (2021). Getting to know the inner self: Exploratory study of identity-oriented psychotrauma therapy—Experiences and value from multiple perspectives. Frontiers in Psychiatry, 12, 526399.
Wu, Y., Lu, Y.-C., Jacobs, M., Pradhan, S., Kapse, K., Zhao, L., Niforatos-Andescavage, N., Vezina, G., du Plessis, A. J., & Limperopoulos, C. (2020). Association of prenatal maternal psychological distress with fetal brain growth, metabolism, and cortical maturation. JAMA Network Open, 3(1), e1919940.