Warum Grenzen setzen so schwer ist & wie frühe Grenzüberschreitungen uns bis ins Erwachsenenalter prägen

Für viele Menschen ist es eine echte Herausforderung, gesunde Grenzen zu setzen und aufrechtzuerhalten. Dazu gehört, Nein zu sagen, ohne sich schuldig zu fühlen, eigene Bedürfnisse wahrzunehmen und zu formulieren oder überhaupt zu spüren, was sich innerlich stimmig anfühlt. Je nach Lebensbereich treten diese Schwierigkeiten unterschiedlich stark auf. Für manche ist es besonders herausfordernd in romantischen Beziehungen, für andere im beruflichen Umfeld oder innerhalb der Familie.

Aus einer traumasensiblen und ganzheitlichen Perspektive betrachtet, spiegeln diese Schwierigkeiten oft frühere Erfahrungen wider, in denen Bindung und Sicherheit davon abhingen, dass wir uns anpassen und unsere eigenen Bedürfnisse unterdrücken. Genau diese Erlebnisse prägen uns bis ins Erwachsenenalter.

Dieser Blogartikel beschreibt, wie frühe Grenzüberschreitungen unser heutiges Leben beeinflussen und wie wir wieder mehr in den Kontakt mit unserer eigenen Wahrheit kommen können.

Wie sich frühe Grenzverletzungen auf unser heutiges Leben auswirken

Grenzen sind mehr als Worte oder Entscheidungen. Sie spiegeln unser Selbstwertgefühl, unsere innere Orientierung und unser Sicherheitsgefühl im eigenen Körper. Sie zeigen, wie wir Beziehungen gestalten möchten und welcher Raum uns guttut.

Wenn dieser Raum in der Kindheit nicht geachtet wurde, hinterlässt das tiefe Spuren. Viele haben erlebt, dass ihre Gefühle übergangen, ein Nein nicht ernst genommen und Anpassung an die Umgebung zur Norm wurde. Das Nervensystem lernt früh, dass Selbstausdruck und Selbstschutz riskant sein können. Auch gut gemeinte elterliche Handlungen können die Grenzen eines Kindes überschreiten, vor allem unter Stress oder Überforderung. Das Kind erhält oft die Botschaft, dass die Gefühle anderer wichtiger sind als das eigene Erleben.

Daraus entstehen Überlebensstrategien, die uns bis ins Erwachsenenalter begleiten: manche entwickeln eine ständige Alarmbereitschaft (hypervigilance), andere stellen die eigenen Bedürfnisse zurück (fawn) oder erstarren innerlich (freeze). Wieder andere setzen extrem strenge Grenzen, um Kontrolle und Sicherheit zu gewinnen. Diese Muster prägen, wie wir uns selbst sehen und in Beziehung zu anderen treten.

Häufige Grenzüberschreitungen in der Kindheit

Nicht jede Grenzüberschreitung ist offensichtlich. Oft entstehen sie in alltäglichen Situationen von Überforderung, Kontrolle oder emotionaler Distanz. Das Nervensystem eines Kindes unterscheidet nicht zwischen großen und kleinen Verletzungen, sondern spürt nur, ob es gesehen, sicher und angenommen wird.

1. Physische Grenzen

Gesunde physische Grenzen vermitteln, dass der eigene Körper einem selbst gehört. Werden sie missachtet, lernt der Körper, Signale von Unwohlsein zu ignorieren. Beispiele:

  • Körperkontakt erzwingen (zum Beispiel: „Gib der Oma einen Kuss, sei nicht so unhöflich“): Das Kind lernt, Widerstand oder Unbehagen zu unterdrücken und den natürlichen Schutzimpulsen nicht zu vertrauen.

  • Kein Recht auf Privatsphäre (zum Beispiel wenn Zimmer einfach betreten werden, oder Tagebücher gelesen wrden): Dies kann zu wachsender, extremer Wachsamkeit und dem Gefühl führen, dass die eigene Privatsphäre nicht sicher ist.

  • Schmerz oder Unwohlsein werden heruntergespielt („Das tut nicht weh“, „Stell dich nicht so an“): Dadurch entsteht eine Entfremdung von den eigenen Körperempfindungen und eine Unsicherheit im Wahrnehmen der eigenen Realität.

  • Körperliche Gewalt und Bestrafung als „Erziehung“: Häufig werden sie als Disziplin oder sogar als Form von Fürsorge begründet. Für das Kind bedeutet das, dass ein Verhalten, das Angst und Schmerz auslöst, als Schutz interpretiert werden soll. Diese Verwirrung führt dazu, dass das Nervensystem später kaum unterscheiden kann, wann etwas wirklich sicher ist und wann nicht.

  • Beschämung des Körpers durch Kommentare über Gewicht, Aussehen, Essverhalten: Der Körper lernt, dass er so wie er ist, nicht sicher ist. Langfristig können Scham und Anspannung entstehen das natürliche Körpergefühl verloren gehen .

  • Sexueller Missbrauch oder unerwünschtes Berühren. Das ist eine besonders schwere Form der Grenzverletzung, die das Grundgefühl von Sicherheit und Kontrolle über den eigenen Körper tief erschüttert. Häufig reagiert das Nervensystem mit Erstarrung oder Dissoziation und wir verlieren den Zugang zu unserem gesunden Körperkontakt.

2. Emotionale Grenzen

Emotionale Grenzen helfen Kindern, eigene Gefühle von denen anderer zu unterscheiden. Werden sie verletzt, passen sich Kinder an, unterdrücken Gefühle oder übernehmen die Emotionen anderer. Häufige Beispiele sind:

  • Gefühle werden abgewertet oder beschämt („Hör auf zu weinen“, „Sei nicht so sensibel“)

  • Das Kind wird für die Gefühle der Eltern verantwortlich gemacht („Wegen dir bin ich traurig“)

  • Emotionen werden versteckt, um Konflikte zu vermeiden („Über so etwas sprechen wir hier nicht“)

  • Selbstaufgabe wird gelobt („Du bist so ein braves Mädchen, du machst uns nie Ärger“)

Diese frühen Erfahrungen zeigen sich im Erwachsenenalter als People-Pleasing, Angst vor Offenheit oder Schuldgefühle beim Ausdrücken eigener Emotionen.

3. Symbiose und Autonomiegrenzen

Gesunde symbiotische und autonome Grenzen ermöglichen es einem Kind, Nähe zu erleben, ohne sich selbst zu verlieren. Wird diese Balance gestört, entstehen Überlebensstrategien, in denen Liebe oft mit Leistung, Anpassung oder der Übernahme von Verantwortung verwechselt wird.

Beispiele hierfür sind:

  • Parentifizierung: Das Kind übernimmt emotionale oder praktische Rollen, die eigentlich Erwachsenen zustehen. Die eigenen Bedürfnisse werden unterdrückt um für mehr Stabilität in der Familie zu sorgen.

  • Verschwimmene Eltern-Kind-Rollen („Du bist mein bester Freund“, „Außer dich habe ich niemanden“): Dies erzeugt eine Identitätsverwirrung und das Gefühl, für das emotionale Wohlergehen der Eltern verantwortlich zu sein.

  • Bevorzugen von Geschwistern / Konkurrenzverhalten: Wenn Wertschätzung davon abhängt, welches Kind “besser” ist oder mehr Loyalität zeigt, lernen Kinder, dass Liebe verdient werden muss. Dies untergräbt das Gefühl von Sicherheit und Zugehörigkeit.

  • Ein Nein wird oft beschämt oder bestraft. Das Nervensystem lernt, dass Grenzensetzen sich bedrohlich anfühlt, was später zu chronischer Anpassung, Erstarrung oder rebellischem Widerstand führen kann.

    Entscheidungen werden ohne Mitspracherecht getroffen („Du machst das jetzt, weil ich es sage“): Dies schwächt das Selbstvertrauen und die Fähigkeit, eigene Bedürfnisse wahrzunehmen und Entscheidungen selbst oder gemeinsam zu treffen.

Solche Erfahrungen vermitteln Kindern, dass Authentizität und Zugehörigkeit nicht gleichzeitig möglich sind. Im Erwachsenenalter zeigt sich das häufig in Co-Abhängigkeit, Schuldgefühlen beim Setzen von Grenzen, übermäßiger Verantwortung oder dem Wechsel zwischen Überanpassung und Rückzug.

4. Energetische und umfeldbezogene Grenzen

Manche Grenzen beziehen sich weniger auf Handlungen als auf den Rahmen, der einem Kind Sicherheit bieten soll. Wenn dieser Rahmen unzuverlässig, chaotisch oder belastend ist, lernt das Nervensystem, dass die Welt selbst unvorhersehbar oder bedrohlich ist. Folgende Beispiele treten häufig auf:

  • Aufwachsen in Chaos, Konflikten oder ständiger Unvorhersehbarkeit: Das Nervensystem bleibt dauerhaft in Alarmbereitschaft. Später kann sich dies in Angst, Erschöpfung oder der Unfähigkeit zeigen, sich selbst in ruhigen und sicheren Situationen zu entspannen.

  • Früher Kontakt mit Themen oder Substanzen, die Kinder überfordern: Das Kind wird emotional überladen, bevor es die Kapazität hat, das Erlebte zu verarbeiten. Das führt zu verfrühtem „Erwachsensein“ und zu verschwommenen inneren Grenzen, was angemessen und gesund ist und was nicht.

5. Spirituelle und Identitätsgrenzen

Spirituelle und identitätsbezogene Grenzen helfen einem Kind, ein authentisches Selbstgefühl zu entwickeln. Werden sie verletzt, entsteht Verunsicherung darüber, wer man ist und wozu man gehört.

Häufige Beispiele sind:

  • Religiöse oder moralische Kontrolle („Gott ist enttäuscht von dir“, „Brave Kinder machen das nicht“): Statt Verbindung und Sinn entstehen Gefühle von Angst, Schuld oder Scham.

  • Unterdrückung von Neugier oder Kreativität. Wenn ein Kind für sein Fantasiespiel, seine spontane Kreativität oder seine neugierige Art ausgelacht, beschämt oder abgewertet wird, beginnt es, an der Natürlichkeit seines eigenen Ausdrucks zu zweifeln. Was sich vorher leicht und richtig angefühlt hat, wird plötzlich als unangemessen oder lächerlich dargestellt. Das Kind zieht sich innerlich zurück, um nicht wieder verletzt oder gedemütigt zu werden, und lernt so, seine lebendige, intuitive Natur zu unterdrücken.

  • Starre kulturelle oder familiäre Identitätsvorgaben („In unserer Familie machen wir das so“, „So etwas passt nicht zu uns“): Die eigene Individualität wird als Gefahr für Zugehörigkeit erlebt, was später zu Identitätskonflikten führen kann.

Folgen unverarbeiteter Grenzüberschreitungen

Viele Menschen tun sich schwer damit, ihre eigenen Grenzen zu erkennen, weil sie nie gelernt haben, eine gesunde Beziehung zu sich selbst oder zu anderen aufzubauen. Die Auswirkungen früher Grenzüberschreitungen zeigen sich oft sehr deutlich im Erwachsenenalter. Sie beeinflussen unser Selbstwertgefühl, unsere emotionale Regulation, unsere Beziehungen und die Art, wie wir uns im Alltag bewegen. Einige der häufigsten Folgen, die wir erleben können, sind die folgenden:

  • Innere Verwirrung & Spaltung: Es fällt uns schwer, die eigenen Bedürfnisse zu erkennen oder sie von denen anderer zu unterscheiden. Wenn Grenzen über lange Zeit ignoriert oder übergangen wurden, wird unklar, was sich für uns eigentlich stimmig anfühlt und was nicht. Die körperlichen Signale von Ja und Nein fühlen sich unzuverlässig oder widersprüchlich an, weil unser System früh lernen musste, Unbehagen zu unterdrücken, um sich “sicher” zu fühlen. Dadurch entsteht eine tiefe Unsicherheit darüber, was sich eigentlich richtig anfühlt, wann wir Nein sagen dürfen und wie wir unseren Empfindungen und Instinkten vertrauen können.

  • Chronische Selbstaufgabe: In diesem Fall stellen wir die Bedürfnisse und das Wohlbefinden anderer über die eigenen, häufig aus Angst vor Konflikten, Ablehnung oder Schuldgefühlen. Hinter dieser Überlebenstrategie liegt oft die Angst davor ein Nein auszusprechen oder die Enttäuschung anderer auszuhalten. Wenn das Setzen von Grenzen früher zu Distanz oder Verlust geführt hat, hat unser Körper gelernt, sich nach außen zu orientieren und ständig die Reaktionen anderer zu scannen, statt in der eigenen Wahrheit zu bleiben. Mit der Zeit schwächt dies unser Selbstvertrauen und schafft eine innere Leere, in der unsere Bedürfnisse und Gefühle zweitrangig werden, um für Harmonie zu sorgen oder Zustimmung zu erhalten.

  • Emotionale Überforderung beim Setzen von Grenzen. Wenn wir in der Kindheit nicht lernen konnten, uns selbst zu regulieren und zu ko-regulieren, nimmt unser Nervensystem Gefühle wie Schuld, Scham oder Angst als Gefahr wahr, anstatt als natürliche Signale. Auslöser im Hier und Jetzt reaktivieren alte Erfahrungen, wodurch wir in emotionalen Schleifen steckenbleiben, die überwältigend oder endlos wirken können.

  • Herausforderungen in Beziehungen: Unverarbeitete Grenzüberschreitungen zeigen sich besonders stark in unseren Beziehungen. Viele von uns entwickeln Überlebensstrategien wo wir konstant zu viel geben oder zu sehr an den Partner angepasst sind. Ein Beispiel ist die Co-Abhängigkeit, oft geprägt von der Angst vor Konflikten oder dem Verlassenwerden und dem tiefen Bedürfnis, die Verbindung zum anderen Menschen um jeden Preis zu erhalten. Dadurch verlieren wir uns selbst, verschmelzen emotional oder tragen die Lasten anderer. Als anderes Extrem, können wir, wenn wir wiederholt Überforderung oder Verletzung erlebt haben, sehr strenge Grenzen zum Schutz entwickeln, die zu emotionaler Distanz und keinem oder geringen Vertrauen zu anderen Menschen führen. Dies zeigt sich oft in Kontrolle, Rückzug oder Vermeidung von Beziehungen, und einem Nervensystem, das keine Entspannung in zwischenmenschlicher Nähe findet. Beide Seiten sind Überlebensstrategien, wo wir einmal Sicherheit über Nähe suchen, und einmal über Distanz.

  • Somatische Folgen: Durch chronische Grenzüberschreitungen steckt unser Nervensystem häufig zwischen Übererregung und Untererregung fest. In der Übererregung ist das System im Kampf-oder-Flucht-Modus (fight/flight) gefangen und Symptome wie Angst, Panik, Reizbarkeit, Aggression oder innere Unruhe dominieren. Der Körper fühlt sich dauerhaft angespannt und wachsam. In der Untererregung hingegen haben wir kaum Energie und wir erleben Müdigkeit, Taubheit, Depression, Einsamkeit und innere Entfremdung. Viele traumatisierte Menschen schwanken zwischen diesen beiden Zuständen und finden nur schwer in ein reguliertes Toleranzfenster, in dem Verbindung, Präsenz und innere Ruhe möglich sind.

Wenn Grenzen sich schwer halten lassen

Es gibt bestimmte Situationen, die alte Überlebensstrategien reaktivieren und es besonders schwer machen, unseren Grenzen treu zu bleiben. Umso mehr wir verstehen, was uns in diesen Momenten triggert, können wir lernen unsere inneren Reaktionen besser zu regulieren. Im Folgenden findest du Beispiele von typischen Trigger:

  • Familientreffen: Hier wiederholen sich oft die alten Dynamiken aus der Kindheit. Schuldgefühle, die Angst nicht genug zu sein für die eigenen Eltern oder der innere Druck, Erwartungen erfüllen zu müssen, kommen auch leicht im Erwachsenenalter zum Ausdruck wenn wir uns wieder in diesen Familiendynamiken befinden.

  • Romantische Beziehungen: Unser Wunsch nach Nähe kann gleichzeitig oft im Konflikt stehen mit der Angst vor Nähe, und uns selbst in einer Beziehung zu verlieren. In Beziehungen wiederholen wir oft alte Bindungsmuster aus der Kindheit, etwa Co-Abhängigkeit, starke Anpassung an den Partner oder Angst, Nähe überhaupt zu zulassen. Daraus resultieren dann oft ungesunde Beziehungsdynamiken.

  • Arbeitswelt und die Angst vor Autoritätspersonen: Der Druck, mehr zu leisten, die Angst vor Ablehnung, oder die Unsicherheit im Umgang mit Konflikten können unser Nervensystem stark aktivieren. Viele Menschen fallen in diesen Situationen in das bekannte Muster, es allen recht machen zu wollen (oder das Gefühl es zu müssen).

  • Soziale Verpflichtungen: Dies zeigt sich häufig in dem Gefühl Erwartungen oder Verpflichtungen nachkommen zu müssen, darin, die eigenen Bedürfnisse nicht zu priorisieren, oder im inneren Druck, Erwartungen im Freundes- oder Bekanntenkreis zu erfüllen.

  • Innere Auslöser. Körperliche Empfindungen wie Müdigkeit oder Anspannung, emotionale Zustände wie Angst oder Überforderung, oder Erinnerungen an frühere Grenzüberschreitungen können das Nervensystem unmittelbar in alte Muster zurückführen.

Somatische Übungen, um dein Ja und Nein besser zu spüren

Bevor wir eine Grenze im Außen setzen können, brauchen wir einen Zugang dazu, was sich im Inneren stimmig oder nicht stimmig anfühlt. Für viele von uns ist genau das der schwierigste Teil, weil unser Nervensystem früh gelernt hat, Unbehagen zu übergehen, um das Gefühl von Sicherheit oder Zugehörigkeit nicht zu verlieren.

Die folgenden Übungen können dir dabei helfen, deine Körpersignale und das verkörperte Gefühl von Grenzen wieder klarer wahrzunehmen:

a. Der Ja/Nein-Körpercheck

Wähle eine neutrale Situation und frage dich:

  • Was fühlt sich wie ein echtes Ja in meinem Körper an?

  • Was fühlt sich wie ein echtes Nein an?

Lade deinen Körper ein, über Empfindungen zu sprechen:

  • Ein Gefühl von Enge oder Weite

  • Zusammenziehen oder Ausdehnen

  • Wärme, Kälte, Schwere, Kribbeln

  • Den Atem anhalten oder freier atmen

Wenn wir lange von unserem Körpergefühl getrennt waren, können wir diese Empfindungen oft nicht sofort wahrnehmen, aber durch regelmäßiges Üben können wir unsere instinktiven Grenzen langsam wieder entdecken.

b. Die Minipause

Bevor du auf eine Bitte eingehst oder Frage beantwortest, bei der du unsicher bist:

  • Halte kurz inne

  • Nimm einen Atemzug

  • Spüre nach innen

Wenn sich dein Körper anspannt, zurückweicht, der Atem flacher wird oder ein Unbehagen auftaucht, zeigt sich oft eine Grenze. Wenn dein Körper weicher wird, sich öffnet oder Klarheit aufkommt, deutet dies meist auf eine innere Stimmigkeit hin.

Praktische Tips um Grenzen klarer zu kommunizieren

Viele von uns haben Schwierigkeiten, Grenzen klar und deutlich zu kommunizieren. Vor allem nach traumatischen Erfahrungen fehlt uns oft der Zugang zu den eigenen Körpersignalen, zu unser inneren Stimme und zur eigenen Handlungsfähigkeit. Wenn wir anfangen, Grenzen zu setzen, kann sich das erst einmal bedrohlich und äußerst unangenehm für unser Nervensystem anfühlen. Wir können erstarren, uns schnell zurück ziehen oder eine innere Abwehrhaltung aufbauen, um uns so vor altem Schmerz zu schützen. In anderen Momenten fallen wir in bekannte Muster, wie dem anderen zu gefallen, uns komplett anzupassen oder das Gefühl mit dem Gegenüber zu verschmelzen.

Diese innere Verwirrung zeigt, wie die Gefühle aus der Vergangenheit sich mit der Gegenwart vermischen. Eine hilfreiche Frage in solchen Momenten lautet: Wie viel von meiner Reaktion gehört wirklich zu dem, was jetzt gerade passiert, und wie viel davon ist ein altes Überlebensmuster, das erneut aktiviert wird?

Diese Reflexion unterstützt dich darin, deine Grenze besser einzuordnen und aus Klarheit statt aus Angst zu handeln. Gleichzeitig stärkt sie deine Fähigkeit, in Verbindung zu bleiben, ohne dich selbst zu verlieren.

Im Folgenden findest du verschiedene Formulierungen, die dir helfen können, Grenzen in herausfordernden Situationen klar und ruhig auszudrücken:

1. Neutrales und klares Setzen von Grenzen

Diese Sätze helfen dir, bei dir zu bleiben, ohne dich rechtfertigen zu müssen. Beispiele:

  • Ich brauche etwas Zeit für mich, bevor ich dir eine Antwort geben kann, die sich stimmig anfühlt.

  • Vielen Dank für die Einladung, aber es fühlt sich im Moment nicht richtig an für mich, Ja zu sagen.

  • Ich höre, was du sagst, und ich brauche etwas Zeit, um darüber nachzudenken, bevor ich eine Entscheidung treffe.

2. Wenn du deine Energie schützen möchtest

Diese Sätze sind hilfreich, wenn du dich erschöpft, überreizt, unter Druck gesetzt oder emotional überfordert fühlst. Beispiele:

  • Ich möchte ehrlich mit dir sein, meine Energie ist im Moment begrenzt, deshalb brauche ich erstmal Zeit, mich um mich selbst zu kümmern.

  • Ich schätze unsere gemeinsame Zeit, und gleichzeitig brauche ich heute etwas Raum, damit ich meine eigenen Kapazitäten nicht überschreite.

  • Ich merke, dass mein System gerade überreizt ist, und ich brauche etwas mehr Langsamkeit und Ruhe um mich zu regulieren.

3. Die Verbindung zum Gegenüber halten und gleichzeitig eine Grenze setzen

Diese Formulierungen unterstützen dich, wenn du Angst vor Konflikten oder Ablehnung hast, oder davor eine Beziehung zu verlieren. Beispiele:

  • Unsere Beziehung/Freundschaft ist mir wichtig, und ich brauche etwas mehr Ruhe in diesem Gespräch, damit ich ehrlich und geerdet bleiben kann.

  • Ich bin hier und höre dir zu, und ich brauche einen Moment um kurz inne zu halten, damit ich wirklich aufnehmen kann, was du sagst.

  • Ich möchte dich wirklich verstehen, und ich merke, dass ich mich gerade überfordert fühle. Deshalb brauche ich eine (kurze) Pause, damit ich präsent bleiben kann.

4. Situationen mit Druck, Erwartungen oder Dringlichkeit

Diese Sätze helfen, wenn jemand möchte, dass du schnell entscheidest oder sofort reagierst. Beispiele:

  • Ich höre, dass dir das wichtig ist, und ich brauche Zeit, um in meine eigene Wahrheit hineinzuspüren, bevor ich dir eine Antwort geben kann.

  • Ich verstehe, dass sich das für dich wichtig anfühlt, und ich brauche Zeit, um meine eigene Klarheit zu finden.

  • Ich treffe keine guten Entscheidungen unter Druck, deshalb komme ich später darauf zurück.

5. Grenzen für digitale Kommunikation

Diese Formulierungen unterstützen dich darin, deine Energie im digitalen Raum zu schützen. Beispiele:

  • Danke für deine Nachricht. Ich melde mich, sobald ich wieder mehr Kapazität habe.

  • Ich habe gelesen, was du geschrieben hast, und brauche etwas Zeit, damit ich dir in Ruhe antworten kann.

Allgemeine Hinweise für eine klare Kommunikation

  • Sprich aus deiner eigenen Erfahrung, nicht über das Verhalten der anderen Person.

  • Vermeide langes Erklären.

  • Halte deinen Ton ruhig und geerdet.

  • Wenn sich Unbehagen meldet, ist das verständlich. Dein Körper erinnert sich an früher erlebte Gefahr, auch wenn der Moment heute sicher ist.

  • Erinnere dich daran, dass du nicht kontrollieren kannst, wie andere Menschen auf das was du sagst reagieren.

Persönliche Grenzen (Grenzen, die du mit dir selbst hältst)

Dies sind oft die Grenzen, die am leichtesten übersehen werden. Sie prägen, wie du mit dir selbst umgehst, wie du innerlich mit dir sprichst, wie du dich regulierst und wie bedacht du mit deiner eigenen Energie und deinem Körper umgehst.

Beispiele für persönliche Grenzen sind zum Beispiel:

  • Dich auszuruhen, wenn du müde bist

  • Zu essen, wenn du wirklich Hunger hast

  • Überstimulierende Situationen zu verlassen

  • Dich nicht selbst zu vergessen und deine Bedürfnisse zu unterdrücken, um die Erwartungen anderer zu erfüllen

  • Dich nicht zu Produktivität zwingen, wenn dein Körper Ruhe braucht

Persönliche Grenzen bilden die innere Struktur, die es überhaupt erst möglich macht, in Beziehungen gesunde Grenzen zu setzen.

Trigger verstehen

Bestimmte Situationen erschweren uns das Setzen von Grenzen besonders. Oft liegt das daran, dass dies unterbewusst eine alte Stressreaktion aktiviert, wo es sich für uns nicht sicher angefühlt hat, die eigene Wahrheit auszusprechen. Häufige Auslöser, die frühere Traumareaktionen triggern können, sind zum Beispiel:

  • Wenn jemand Enttäuschung zeigt

  • Wenn du Angst vor Ablehnung oder dem Verlassenwerden spürst

  • Wenn du dich für die Gefühle anderer verantwortlich fühlst

  • Wenn du Konflikt oder Spannung wahrnimmst

  • Wenn jemand dich an eine Elternfigur oder frühere Autorität erinnert

  • Wenn dein Körper erstarrt (freeze) und du dich nicht ausdrücken oder

Gerade in solchen Momenten ist es wichtig, Selbstregulation zu üben, um besser unterscheiden zu können, welche Gefühle von vergangenen Erfahrungen stammen und was tatsächlich im Hier und Jetzt geschieht. Unten findest du einige einfache Übungen, die du jederzeit im Alltag anwenden kannst:

Tips zur Regulation, wenn du getriggert bist

  • Lege eine Hand auf deine Brust und eine auf deinen Bauch, und spüre deine Atmung

  • Drücke deine Füße sanft in den Boden und spüre den Boden unter dir um dich zu erden

  • Verlängere bewusst deine Ausatmung

  • Orientiere dich im Raum, indem du dich langsam umschaust und Formen, Farben und Gegenstände wahrnimmst

  • Benenne, was du fühlst (das Benennen reduziert die innere Aktivierung)

Diese Übungen unterstützen dein Nervensystem dabei, wieder mehr Regulation zu finden, damit du aus Klarheit heraus reagieren kannst statt aus alten Überlebensmustern.

Mitgefühl und Verständnis entwickeln

Grenzen zu setzen und zu halten ist kein einfacher Schritt, sondern ein Prozess der inneren Heilung. Für viele von uns liegt die Herausforderung nicht im fehlenden Willen, sondern in den Überlebensstrategien, die unser Körper früher entwickeln musste, um Nähe, Sicherheit und Verbindung überhaupt möglich zu machen. Wenn Grenzen in der Kindheit nicht sicher waren, ist es verständlich, dass sie sich später verwirrend, überfordernd oder sogar bedrohlich anfühlen. Und Grenzen, die uns früher geschützt haben, können sich im Erwachsenenalter eher als Rückzug, Vermeidung oder innere Distanz zeigen. Dies sind Ausdrucksformen unseres Nervensystems, das weiterhin versucht, uns zu schützen.

Darum braucht der Prozess unsere Grenzen wahrzunehmen, zu hinterfragen und besser auszudrücken, Zeit, Mitgefühl und ehrliche Selbstreflexion. Es ist ein Prozess der uns dazu einlädt, über Fragen zu reflektieren, zum Beispiel: Welche Grenzen unterstützen heute wirklich mein Wohlbefinden? Wo reagiere ich noch auf alte Erfahrungen, anstatt auf das, was jetzt gerade passiert? Was braucht mein Körper, um sich sicher und verbunden zu fühlen? Es gibt darauf keine perfekten Antworten. Es ist ein langsames Wiederfinden von inneren Signalen, die wir früher unterdücken mussten.

Auf diesem Weg kann es hilfreich sein, dir bewusst zu machen, dass jede gesunde Grenze, die du setzt, oder klarer formulierst, ein Schritt zurück in dein Selbstvertrauen ist. Wenn du erkennst, was dich triggert, du im Kontakt mit deinem Körper bleibst und wahrnehmen kannst, wann alte Überlebensstrategien aktiviert werden, wird es mehr und mehr möglich, aus gesunder Klarheit anstatt aus einem Überlebensanteil zu handeln. Das stärkt dein inneres Gefühl von Stabilität und unterstützt Beziehungen, die ehrlicher und gesünder werden dürfen.

Grenzen zu setzen bedeutet nicht, andere immer auf Abstand zu halten oder perfekt funktionieren zu wollen. Es bedeutet, bei dir selbst zu bleiben, während du in Verbindung mit anderen bist. Es bedeutet, deine eigenen Erfahrungen und dich selbst mit Mitgefühl zu halten und Grenzen zu wählen, die deiner Wahrheit und deiner aktuellen inneren Kapazität entsprechen.

✍️ Fragen zur Selbstreflexion

  1. Welche Empfindungen zeigen sich in meinem Körper, wenn etwas zu viel, zu schnell oder nicht stimmig ist?

  2. In welchen Beziehungen verliere ich meinen eigenen Standpunkt oder fühle mich schuldig, weil ich Bedürfnisse habe?

  3. In welchen Situationen fühle ich genug Raum und Sicherheit, um ehrlich über mein inneres Erleben zu sprechen?

  4. Welche Grenzen konnte ich als Kind nie setzen, und wie wirkt sich das heute auf mich aus?

  5. Gibt es Momente, in denen ich stärker reagiere, als es der aktuelle Anlass erfordert? Welche früheren Erfahrungen könnten darin mitschwingen?

👣 Dein persönlicher Grenzkompass

Nimm dir einen Moment Zeit und schreibe zwei Listen:

  • Was ich erlaube, obwohl es mir nicht guttut

  • Was ich brauche, aber nicht ausdrücken kann

Die Liste Was ich erlaube, obwohl es mir nicht guttut macht sichtbar, wo du deine Grenzen überschreitest, wo du dich selbst übergehst oder in vertraute Muster rutschst. Oft sind es genau jene Strategien, die dir früher Schutz oder Zugehörigkeit verschafft haben.

Die Liste Was ich brauche, aber nicht ausdrücken kann zeigt wo du früher gelernt hast, deine Bedürfnisse zu unterdrücken, weil es zu Konflikten, Strafen, Beschämung oder emotionaler Distanz geführt hat.

Wenn du deine beiden Listen betrachtest, begegne dir mit Mitgefühl. Lade Sanftheit und Neugier ein und frage dich:

  • Welcher Teil in mir hat gelernt, dass dieses Verhalten notwendig ist

  • Wovor habe ich mich geschützt, wenn ich geschwiegen oder nachgegeben habe?

  • Was spüre ich im Körper, wenn ich mir vorstelle, das Gegenteil zu tun?

Diese Übung hilft dir, die emotionale Logik deiner Überlebensstrategien besser zu verstehen und eine Verbindung zwischen deinem erwachsenen Ich und den inneren Kindanteilen aufzubauen, die immer noch versuchen, dich zu schützen.

Mit der Zeit entsteht daraus ein Bewusstsein, das gesündere Grenzen ermöglicht. Grenzen, die stabiler sind, mitfühlender, lebendiger und stärker in der Gegenwart verankert statt in alten Reaktionen.

Wenn dieser Blogartikel mit dir resoniert, freue ich mich wenn du deine Gedanken und Erfahrungen in den Kommentaren teilen möchtest. Und wenn du den Wunsch hast, deine eigenen Muster und Herausforderungen besser zu verstehen und dein gesundes Ich zu stärken, begleite ich dich gern in traumasensiblen und ganzheitlichen Sitzungen, online oder in Oslo.

Danke, dass du hier bist.
Julia 💙

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