Die versteckten Kosten der Perfektion: Wenn kindliche Überlebensstrategien im Erwachsenenalter erschöpfen

Perfektionismus ist kein Persönlichkeitsmerkmal, er ist eine Reaktion auf Trauma.

Es gibt eine Art von Perfektionismus, die weit über den Wunsch hinausgeht, Dinge gut zu machen. Dabei geht es nicht um Ehrgeiz oder Erfolg, sondern dem tiefen Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle. Oft ensteht Perfektionismus schon in einer frühen Lebensphase, wo es nicht möglich oder sicher war, einfach man selbst zu sein.

Perfektionismus wird so zu einer Strategie, die das Nervensystem schon früh entwickelt hat, um etwas Unerträgliches abzuwehren: nicht geliebt und nicht gewollt zu werden für das, was man ist. Im Kern dieses Perfektionismus steht ein Kind, das keine andere Wahl hatte, als sich den Bedürfnissen anderer anzupassen.

Familiäre Prägungen: Wenn Leistung wichtiger wird als Sein

Viele Kinder wachsen in Familien auf, in denen ihre emotionalen Grundbedürfnisse nicht erfüllt werden, nicht, weil die Eltern kein Interesse hätten, sondern weil sie selbst unverarbeitetes Trauma mit sich tragen. Statt gespiegelt, getröstet und angenommen zu werden, musste das Kind leisten:

  • Gefällig, brav, still oder erfolgreich sein

  • Die emotionalen Bedürfnisse eines abwesenden, kontrollierenden oder überforderten Elternteils erfüllen

  • Unermüdlich nach Anerkennung streben, die nie erreichbar war

Manche Kinder werden sogar bewusst in ein „Verlieren“ gedrängt: Sie sollen eine Aufgabe erfüllen, doch egal wie gut sie es tun – es ist nie genug. Die Regeln ändern sich, die Maßstäbe sind unerreichbar, Kritik ist allgegenwärtig. Selbst Erfolg wird kleingeredet oder bestraft. Oft fühlt sich der Elternteil unbewusst bedroht, wenn das Kind gut abschneidet, aus Angst vor eigener Unzulänglichkeit oder Kontrollverlust.

Das Resultat ist tiefe Verwirrung: Das Kind versucht, durch Perfektion Liebe zu gewinnen, doch wirkliche Annahme bleibt aus. Es verinnerlicht die Überzeugung: „Egal, was ich tue, es wird nie reichen.“

In solchen Umgebungen ist Liebe an Bedingungen geknüpft, Lob muss verdient werden und Kritik wird zur Norm. Unbewusst lernt das Kind eine erschütternde Wahrheit: Ich muss so werden, wie du mich haben willst, sonst bin ich nicht sicher.

Wenn Liebe und Sicherheit nicht selbstverständlich sind

Kinder sind vollkommen abhängig von ihren Bezugspersonen. Sie zweifeln nicht an den Eltern, sie zweifeln an sich selbst. Wenn ein Elternteil kalt, kritisch oder unberechenbar ist, denkt das Kind nicht: „Mit dir stimmt etwas nicht“, sondern:

  • „Wenn ich besser wäre, würdest du mich lieben.“

  • „Wenn ich es diesmal perfekt mache, bin ich vielleicht sicher.“

  • „Wenn ich so werde, wie du mich haben willst, wirst du mich vielleicht wirklich wollen.“

Hier beginnt Perfektionismus, nicht aus dem Wunsch, erfolgreich zu sein, sondern als verzweifelter Versuch, Liebe zu sichern, Strafe zu vermeiden und Ablehnung zu minimieren. In dieser Realität wird Echtheit gefährlich. Perfektion wird zur Identität, die das Kind annehmen muss, um zu überleben.

Trauma verstehen mit IoPT

Die Identitätsorientierte Psychotraumatheorie (IoPT) nach Prof. Dr. Franz Ruppert beschreibt, dass frühe Traumata nicht nur Wunden hinterlassen, sondern eine Spaltung der Psyche erzeugen, um das System vor Überforderung zu schützen. Dadurch entstehen innere Anteile:

Traumanteile

  • tragen unerträgliche Gefühle: Trauer, Einsamkeit, Scham, Angst, Verzweiflung

  • fühlen sich leer, unsichtbar, wertlos, unsicher

  • tragen die Überzeugung: „Ich werde nicht gewollt und geliebt für das, was ich bin.“

  • erleben ständige Kontrolle, Druck oder emotionale Überforderung

Diese Anteile liegen oft tief im Unbewussten, weil es als Kind zu schmerzhaft war um sie zu fühlen.

Überlebensanteile

  • kontrollieren, vermeiden, betäuben oder unterdrücken diese Gefühle

  • entwickeln Strategien wie Perfektionismus, Gefälligkeit, Kontrolle, Leistungszwang

  • glauben: „Wenn ich mich genug anstrenge, werde ich endlich geliebt.“

  • verwechseln Leistung und äußere Anerkennung mit Identität

  • treiben Menschen über ihre Grenzen hinaus, Ruhe wird als gefährlich empfunden

Gesunde Anteile

  • tragen Wahrheit, Authentizität, Kraft für innere Bearbeitung und Heilungspotenzial

  • kennen unsere echten Bedürfnisse, unabhängig von Erwartungen anderer

  • leben im Hier und Jetzt und können Gefühle angemessen ausdrücken

  • entwickeln sich weiter, sobald wir beginnen, unsere ungesunden Muster und Dynamiken zu hinterfragen

Diese innere Spaltung beeinflusst, wie wir uns selbst wahrnehmen, Beziehungen gestalten und die Welt erleben.

Wie sich Perfektionismus im Erwachsenenleben zeigt

Auch ohne klare Kindheitserinnerungen hinterlassen Traumadynamiken Spuren, zum Beispiel in Arbeit, Beziehungen und wie wir uns Selbst und unsere Umwelt wahrnehmen.

Wenn Perfektionismus einst unser Überleben sicherte, tauchen ähnliche Muster im Erwachsenenalter wieder auf, vor allem in Stresssituationen, in Beziehungen oder wenn wir Unsicherheit empfinden. Hier sind einige Beispiele:

Im Denken:

  • Ständige Selbstzweifel: „War das gut genug?“

  • Innere Härte und Selbstkritik: oft ein Echo der Stimme eines Elternteils

  • Hochstapler-Syndrom: trotz Erfolge und Leistungen nicht an sich zu glauben, tatsächlich kompetent zu sein, und sich stattdessen als Betrüger oder Hochstapler fühlen, als wenn man nur durch Glück oder Zufall Erfolg hatte

  • Grübeln und Entscheidungsblockaden: Angst, etwas falsch zu machen

Im Körper:

  • Dauerhafte Verspannungen, flache Atmung, Verdauungsprobleme

  • Extreme Wachsamkeit (Hypervigilanz): ständige Alarmbereitschaft, Erwartung von Kritik

  • Erschöpfung, Burnout nach Jahren des zu viel Leistens und Arbeiten

  • Blockiert sein/ Erstarren, was das Setzen von gesunden Grenzen verhindert, oder Gefälligkeitsreaktionen um Ablehnung zu vermeiden

In Beziehungen:

  • Überverantwortung: sich für Gefühle und Bedürfnisse anderer zuständig fühlen

  • Angst, zur Last zu fallen: Schwierigkeiten, um Hilfe zu bitten oder Grenzen zu setzen

  • Kein richtiges Vertrauen und wechselhaftes Verhalten zwischen Nähe und Ablehnung

  • Muster, kritische oder kontrollierende Partner anzuziehen

  • Schwache oder überangepasste Grenzen

Im Beruf:

  • Abhängigkeit von Leistung, ohne Freude am Erfolg

  • Perfektionismus oder Aufschieben von Aufgaben & Entscheidungen aus Angst vor Fehlern

  • Arbeiten aus Angst, nicht aus Inspiration

  • Innerer Druck: „Ich muss immer wieder beweisen, dass ich gut genug bin.“

Es begann nicht bei dir: Der Einfluss von generationsübergreifendem Trauma

Eltern, die unerreichbare Maßstäbe setzen oder emotionale Bedürfnisse ihrer Kinder nicht erfüllen, handeln selten aus Böswilligkeit, sondern aus eigenem unverarbeitetem Trauma. Viele wuchsen selbst in emotional unzugänglichen, überforderten oder gewalttätigen Umgebungen auf. Erfahrungen von Krieg, Stille, Mangel oder Scham prägen unsere kollektive Psyche und das Nervensystem über Generationen hinweg.

In solchen Familien wurden Gefühle unterdrückt, Verletzlichkeit war ein Taboo, Kontrolle und Leistung wurden zur Norm. Diese Erfahrungen werden durch Beziehungsdynamiken, unausgesprochene Erwartungen, Überlebensstrategien und Nervensystemmuster weitergegeben. Dabei ist es wichtig zu verstehen, dassTrauma nicht nur durch das weitergegeben wird, was geschieht, sondern auch durch das, was fehlt.

Wenn wir Perfektionismus in diesem Licht verstehen, wird deutlich, dass es nicht nur um Fleiß geht, sondern um die Last von generationenübergreifendem Trauma, die wir in unserem Nervensystem und unserer Identität tragen. Es ist eine brillante Überlebensstrategie in einem System, das uns nicht erlaubte, einfach zu nur zu sein.

Eine unbequeme Wahrheit und eine sanfte Einladung

Du darfst aufhören, dich ständig zu bemühen. Du darfst dich ausruhen.
Du darfst einfach sein.

Leider ist das nichts, was wir einfach rational entscheiden können. Solange das zugrunde liegende Trauma nicht gesehen und integriert ist, bleibt unser System im Überlebensmodus. Gefühle von Unzulänglichkeit werden weiter unser Erleben bestimmen. Wir wissen vielleicht, dass wir uns ausruhen sollten, aber Innehalten und Pausen machen fühlt sich nicht sicher an.

Das ist nicht deine Schuld. Es ist die Folge von frühem, oft unsichtbarem Trauma, eingebettet in persönliche, kollektive und generationenübergreifende Erfahrungen.

Ein Weg zurück zu dir selbst

Heilung bedeutet nicht, sich zu “reparieren’’. Heilung bedeutet, den Anteilen in dir zu begegnen, die sich anpassen, leisten oder verschwinden mussten, und so Schritt für Schritt wieder mehr innere Sicherheit aufzubauen, die dir damals gefehlt hat.

Du musst nicht im Überlebensmodus bleiben. Ein Weg zu mehr Ruhe, Wahrheit und Verbindung ist möglich, zum Beispiel mit Hilfe von der IoPT-Traumatherapie oder somatischer Integration.

Fragen zur Reflexion:

  • Wovor will mein Perfektionismus mich beschützen?

  • Welcher Teil von mir sehnt sich nach Ruhe, auch wenn sie das Ausruhen noch unsicher anfühlt?

  • Kann ich wahrnehmen, ohne zu urteilen, wie diese frühen Muster heute noch in meinem Körper, meinen Gedanken und meinen Beziehungen wirken?

Wenn dich dieser Artikel angesprochen hat, freue ich mich über deine Gedanken oder Rückmeldungen in den Kommentaren – oder über eine persönliche Nachricht, falls du tiefer eintauchen möchtest.

📩 Ich biete 1:1-Therapie und Gruppensitzungen an (IoPT, somatische Therapie, Gesprächstherapie) – online und vor Ort in Oslo – für alle, die ihre innere Welt in ihrem eigenen Tempo erforschen möchten.

Danke, dass du hier bist.

Julia

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